Die Börse boomt, doch Schweizer und Deutsche profitieren kaum. Sie gehören weltweit zu den grössten Aktienmuffeln. Besser machen es die Norweger, die riesige Gewinne einfahren.

Albert Steck 03.04.2024, 05.30 Uhr

Eine simple Entscheidung hat Norwegen einen gigantischen Wohlstand beschert. Im Jahr 1996 investierte das Land erstmals einen Teil der Erdöleinnahmen in Aktien. Heute verdienen die Bürgerinnen und Bürger dank diesem Staatsfonds massenhaft Geld – allein im letzten Jahr gab es einen Rekordgewinn von 200 Milliarden Euro.

Bereits beläuft sich das Fondsvolumen auf sagenhafte 1500 Milliarden Euro. Wovon die Ölgelder aber nur noch einen Drittel ausmachen. Der grösste Teil des Wohlstands stammt von der Börse. Dank einer jährlichen Rendite von über 6 Prozent.

Aktien machen reich. Wenn die Norweger davon profitieren können, so müsste dies auch bei uns funktionieren. Doch weit gefehlt: Die Schweizer Privathaushalte bunkern ihre Ersparnisse zum allergrössten Teil auf dem Konto. 930 Milliarden Franken erreichen die gesamten Bankeinlagen und Bargeldreserven gemäss der Statistik der Nationalbank – pro Kopf sind das mehr als 100 000 Franken. Ein sicheres Verlustgeschäft: Denn die Inflation liegt deutlich über den mageren Sparzinsen.

Fast nirgendwo in der westlichen Welt werden Aktien dermassen verschmäht wie in der Schweiz und in Deutschland. Das verdeutlicht eine Rangliste der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD): In der Schweiz investieren die Haushalte nur gerade 13 Prozent des finanziellen Vermögens in Aktien. Noch tiefer ist dieser Anteil in Deutschland mit 12 Prozent.

Welch ein Kontrast zum Anlageverhalten der Amerikaner und Skandinavier: Dort halten die Haushalte knapp 40 Prozent des Finanzvermögens in Aktien. Selbst die Franzosen, die nicht als glühende Kapitalisten gelten, kommen auf einen Anteil von 24 Prozent.

Aktien? Nein danke!

Der Börsenboom gibt den Aktienanlegern recht. Der amerikanische Index S&P 500 hat sich seit Anfang 2010 glatt versechsfacht. Beim deutschen DAX hat sich der Einsatz immerhin verdreifacht. Doch hierzulande scheinen diese Erfolge kaum zu interessieren. Zu tief verankert ist die Skepsis gegenüber der Börse. Lieber behalten die Leute ihre Ersparnisse auf dem Konto, so wie sie dies schon immer getan haben.

Auch die Finanzministerin Karin Keller-Sutter ist diesbezüglich «absolut konservativ», wie sie selbst sagt. Kürzlich verriet sie der «NZZ am Sonntag», sie habe ihr privates Geld auf dem Sparbuch angelegt. Ihre Begründung lässt aufhorchen: «Wenn man Anlagen tätigen will, muss man Zeit haben. Und diese Zeit habe ich nicht.»

Wenn selbst die Finanzministerin ein solch antiquiertes Bild der Geldanlage pflegt, so ist es höchste Zeit für etwas Aufklärung. Zunächst einmal: Der Aktienmarkt hat in den letzten Jahrzehnten einen eindrücklichen Prozess der Demokratisierung durchlaufen. Dank dem Internet kann der Anfänger heute praktisch eine gleich hohe Rendite erzielen wie der Profi.

Gleich lange Spiesse für alle

Relevante Nachrichten zu den Finanzmärkten verbreiten sich innert Sekunden rund um den Globus. Es ist daher kaum noch möglich, einen Informationsvorsprung zu erreichen. Dies hat zum Aufschwung von Indexanlagen geführt, die ein bestimmtes Marktsegment eins zu eins abbilden. Diese passiven Indexprodukte sind kostengünstig, zudem übertreffen sie oftmals die Performance von aktiv verwalteten Fonds.

Ein Mangel an Zeit oder Wissen ist daher keine überzeugende Rechtfertigung, um der Börse fernzubleiben: Mit einem einzigen Mausklick kann man eine Anlage kaufen, die sämtliche Schweizer Aktien oder den weltweiten Aktienmarkt umfasst. Auch den norwegischen Staatsfonds zu kopieren, ist kein Kunststück und braucht wenig Zeit: Mit einer Handvoll Indexprodukten lässt sich die Zusammensetzung des Fonds zuverlässig nachbilden.

Skeptiker wenden gerne ein, die Börse sei mit grossen Risiken verbunden. Hartnäckig hält sich das Klischee, wer in Aktien investiere, sei ein Zocker. Dagegen seien Schweizer und Deutsche eben besonders vorsichtige Anleger. Dieses Argument blendet allerdings aus, dass diese Sicherheit einen hohen Preis hat, der sich auf lange Frist selten lohnt.

Denn viele Anleger machen den Fehler, dass sie die Entwertung des Geldes unterschlagen. Effektiv war der reale, inflationsbereinigte Sparzins in den 1960er, 1970er wie auch in den 2000er Jahren negativ. Angesichts der hohen Staatsverschuldung dürfte die Teuerung auch in den nächsten Jahren klar über dem Zins liegen.

Realwerte wie Aktien können vor dieser schleichenden Enteignung schützen. Zwar stimmt es, dass die Börsenkurse kurzfristig stark schwanken. Doch wer seine Anlage mindestens zehn Jahre hält, erzielt fast immer einen Gewinn. Selbst nach Abzug der Inflation haben Schweizer Aktien über die letzten hundert Jahre eine annualisierte Rendite von 5 bis 6 Prozent erreicht.

Spielwiese der Grosskapitalisten?

Weitere Vorbehalte gegen die Aktien sind ideologischer Natur. Demnach wird die Börse als Hort der Hochfinanz gesehen. In dieser Lesart steuert eine Clique von Grosskapitalisten das Geschehen an den Finanzmärkten – während dem Kleinanleger die Rolle des Statisten obliegt. Sind nicht auch bei der gescheiterten Credit Suisse die Publikumsaktionäre regelmässig von den dominierenden ausländischen Eignern überstimmt worden?

Zunächst: Börsenkotierte Unternehmen haben viel grössere Pflichten zur Transparenz als solche, die privat gehalten werden. Somit sind sie für die Öffentlichkeit besser kontrollierbar. Gerade die Schweiz wird weltweit bewundert für ihren Schatz an erstklassigen kotierten Firmen: Mit einer Einwohnerzahl, die lediglich ein Promille der globalen Bevölkerung ausmacht, erreichen diese Konzerne ein Gewicht von 2,4 Prozent am globalen Aktienmarkt.

Umso mehr erstaunt es, dass die hiesigen Sparer zaudern. Dagegen greifen ausländische Investoren noch so gerne zu. Ein Grund für den Niedergang der Credit Suisse lag denn auch in der grossen Macht der ausländischen Eigner, etliche von ihnen aus dem arabischen Raum, welche schliesslich über 80 Prozent der Firmenanteile besassen. Sie liessen das Management an der langen Leine, während die Kritik an der CS-Führung primär von inländischen Aktionären wie der Anlagestiftung Ethos stammte.

Eine breitere Streuung des Aktionariats im Inland würde also nicht nur die Wurzeln der Schweizer Wirtschaft stärken. Ebenso würde der vermeintliche Gegensatz zwischen dem Volk und den Firmen entschärft. Auch eine Aktionärsdemokratie lebt davon, dass die Leute sich beteiligen. Zumal der Zugang zur Börse keineswegs einer reichen Elite vorbehalten ist: Bei manchen Banken beträgt der Mindestbetrag für einen Fondssparplan lediglich 20 Franken. Ganz anders beim Wohneigentum: Kaufen kann hier nur, wer eine sechsstellige Summe an Eigenkapital mitbringt.

Besonders jene, die für den sozialen Ausgleich einstehen, müssten folglich eine stärkere Aktienkultur propagieren. Das gilt erst recht vor dem Hintergrund der zunehmenden Alterung. Durch ihre langfristige Ausrichtung eignen sich Aktien geradezu ideal für die Finanzierung der Renten. Völlig quer in der Landschaft steht daher die Forderung, welche die SP-Nationalrätin Jacqueline Badran kürzlich lancierte: Sie will den Lohnabzug für die Pensionskassen kürzen und dieses Geld stattdessen in die AHV umleiten.

Aktien finanzieren die Rente

Auch für Badran sind Aktien offenbar des Teufels. Dabei übersieht sie allerdings, dass die Schweizer Pensionskassen mit ihren Kapitalanlagen über die letzten fünfzehn Jahre einen kumulierten Gewinn von 350 Milliarden Franken erzielt haben. Obwohl deren Aktienanteil mit 30 Prozent eher tief ausfällt, derweil der norwegische Staatsfonds zu 70 Prozent in Aktien investiert ist.

Somit vermag das Zwangssparen in der Pensionskasse die Aktienphobie der Schweizerinnen und Schweizer wenigstens ein bisschen zu kompensieren. Laut den OECD-Daten erreicht dieses Guthaben 34 Prozent des Finanzvermögens der privaten Haushalte. Auf einen ähnlichen Anteil kommen die USA sowie die skandinavischen Länder. Auch hier fällt Deutschland ab, wo Pensionsfonds lediglich 15 Prozent des Vermögens ausmachen.

Deutschland sollte all jenen, welche wie Badran die Pensionskassen schwächen wollen, eine Warnung sein. Die Kosten der staatlichen Altersvorsorge laufen gefährlich aus dem Ruder, obwohl die Lohnbeiträge schon heute hohe 18,6 Prozent betragen und der Staat zusätzliche 100 Milliarden Euro pro Jahr einschiesst. Erst jetzt springt die deutsche Regierung über ihren Schatten und lanciert eine Aktienrente, in die sie jährlich 12 Milliarden investieren will.

Eine solch mickrige Summe dürfte in Norwegen höchstens Mitleid erregen. Während die Deutschen darauf hoffen, ab 2036 einen jährlichen Ertrag von 10 Milliarden aus der Aktienrente zu erzielen, kommt der norwegische Staatsfonds schon heute jeden Monat auf einen solchen Gewinn.

Von Norwegen zu lernen, bedeutet keine Hexerei. Für die Politik lautet die Lektion, das kapitalgedeckte Vorsorgesparen besser zu fördern. In der Pflicht stehen ebenso die privaten Haushalte: Wer trotz langfristigem Anlagehorizont keine Aktien hält, sollte dringend über die Bücher. Mit fleissiger Arbeit Wohlstand zu erlangen, ist das eine. Doch sollte man das geschaffene Vermögen auch einigermassen klug verwalten.

https://www.nzz.ch/meinung/die-aktienphobie-macht-uns-aermer-darum-investiert-endlich-an-der-boerse-ld.1823190?mktcid=smsh&mktcval=LinkedIn


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