Viele Anleger gehen davon aus, dass die Zinsen und die Inflation nun wieder deutlich und nachhaltig sinken. Ein Irrglaube, sagen Experten.

aktualisiert um 11:00

Von Reto Zanettin

Seit Längerem mutmassen Anleger über eine Zinssenkung durch die amerikanische Notenbank (Fed). Die Schweizerische Nationalbank (SNB) hatte den Leitzins ihrerseits schon im März von 1,75 auf 1,5 Prozent herabgesetzt. Damit wird die Auffassung bestärkt, die Zinsen würden bis auf weiteres wieder fallen – nachdem sie ab 2022 markant gestiegen waren.

Doch dieses Narrativ ist nicht alternativlos: Es gibt Gründe, die weiterhin für erhöhte Inflation und Zinsen sprechen.

Matthias Geissbühler, Raiffeisen-Anlagechef, geht von Erfahrungswerten aus. Historisch betrachtet folgten die Zinsen «fast punktgenau einem 30-jährigen Zyklus», schreibt er auf dem Online-Portal Linkedin. So gesehen hat die Zinswende des Jahres 2022 einen neuen, langjährigen Zinszyklus eingeleitet.

Auch in der Schweiz gehören Null- und Negativzinsen wohl der Vergangenheit an. Längerfristig dürften hier die Inflation und der Leitzins je bei 1,5 bis zwei Prozent liegen, so Geissbühler. Für die Eurozone geht er langfristig von mehr als zwei Prozent Inflation aus, was für Leitzinsen zwischen zwei und 2,5 Prozent spräche. In den USA könnten sogar drei Prozent Inflation das neue Normal werden, schätzt der Raiffeisen-Anlagechef. «Der neutrale Leitzins der Fed läge damit bei rund drei Prozent.»

Christian Gattiker, Research-Chef der Bank Julius Bär, schätzt die Inflationsrate in der Schweiz in den kommenden Jahren auf rund ein Prozent und die Renditen langlaufender Anleihen auf ein bis zwei Prozent. In der Eurozone sieht Gattiker die Inflation zwischen ein und drei Prozent und Leitzinsen von zwei bis vier Prozent.

Höhere Werte werde es wohl in den USA geben. Dort dürfte sich die Inflation zwischen zwei und drei Prozent bewegen, und die langen Zinsen werden voraussichtlich zwischen drei und fünf Prozent liegen, sagt der Julius-Bär-Ökonom.

Angesichts der erhöhten Inflation und der Zinsen, die wahrscheinlich nicht mehr auf die Tiefstände der letzten Jahre sinken werden, normalisiere sich die Lage lediglich. In der jüngeren Vergangenheit sei die Null- und Negativzinsphase aussergewöhnlich gewesen, so Gattiker.

«Der Anlagenotstand wird gelindert»

Anders als während den 2010er-Jahren und der ersten Phase des laufenden Jahrzehnts können sich Investoren nun auf ein grundlegend verändertes Umfeld einstellen. Der Trend zu erhöhter Inflation und höheren Zinsen bedeutet laut Geissbühler für Anleger: «Auf Realwerte setzen.»

Rohstoffe und Gold blieben interessant. «Aktien von Unternehmen, die über Preissetzungsmacht verfügen und steigende Inputkosten an die Konsumenten weitergeben können, werden speziell attraktiv.» Beispiele seien Aktien von Konsumgüter- und Luxusgüterherstellern, aber auch Titel von innovativen Biotech- und Pharmaunternehmen.

Geissbühler nennt dabei auch ein Beispiel aus dem Schweizer Aktienmarkt: «Interessant können auch Nischenplayer wie der Schraubenhersteller Bossard sein, deren Produkte preisunelastisch sind», führt Geissbühler aus.

Einen langfristigen Inflationsschutz bieten Immobilien. «In der Schweiz werden Leitzinsen von 1,5 bis zwei Prozent die Entwicklung des Immobiliensektors auch inskünftig nicht bremsen – zu hoch ist die Nachfrage», sagt der Raiffeisen-Ökonom. Im Ausland könne das anders aussehen.

Christian Gattiker wertet den Langfristausblick auf Inflation und Zinsen als gute Nachricht für Anleger: «Aufgrund der Inflation gibt es wieder etwas zum Verteilen, und aufgrund der wieder höheren Zinsen wird Risikonahme wieder belohnt. Der Anlagenotstand wird gelindert.»

Attraktiv werden somit nicht nur zinstragende Anlagen wie Staatsanleihen, sondern weiterhin Aktien, wie Gattiker in Übereinstimmung mit Geissbühler sagt. Und er kennt die Branchen, die dabei profitieren könnten: «Versicherungs- und Bankwerte haben unter den Negativzinsen gelitten, werden nun aber Rückwind bekommen. Auch Zykliker, denen die schwache Konjunktur zusetzte, können in der normalisierten Inflations- und Zinswelt wieder zulegen».

Was langfristig für Inflation und erhöhte Zinsen spricht

Die These, die Zinsen und die Inflationsraten würden nicht mehr auf die Tiefstände des letzten Jahrzehnts sinken, wird dabei von mehreren Trends gestützt. Inflationsdruck kommt zunächst von der sich verändernden Demografie in den Gesellschaften Europas und Nordamerikas. Matthias Geissbühler sagt: «Der demografische Wandel wird den Arbeitskräftemangel weiter verschärfen und so das Lohnwachstum ankurbeln.» Zugleich werde der Konsum nicht nachlassen, sondern sich verstärkt auf Gesundheitsleistungen verlagern.

Die Energiewende kann zudem via den Rohstoffsektor Inflationsdruck erzeugen. Laut Gattiker sind im Energiesektor die sinkenden Preise der letzten Jahre für Erneuerbare auch für die Zukunft ermutigend: «Sie hemmen die Inflation.» Der Research-Chef von Julius Bär rechnet in den nächsten Jahren nur beispielsweise bei Kupfer mit einem strukturellen, preistreibenden Engpass. 

Wiederum im Zusammenhang mit den Rohstoffen übt das Ende der so genannten Friedensdividende Druck auf die Preise aus. Seit dem Ende des Kalten Kriegs konnten sich manche Staaten mit Verteidigungsausgaben zurückhalten. Doch Sicherheit hat eine wieder höhere politische Priorität. Das Ende der Friedensdividende dürfte, so Geissbühler, «ein permanentes Aufrüsten erfordern – und damit die Rohstoffpreise ebenfalls nach oben bewegen.»

Der Raiffeisen-Ökonom folgert: «Die erhöhte Inflation wird es den Zentralbanken praktisch verunmöglichen, die Zinsen tief zu halten.» Und weiter: «Für höhere Zinsen spricht zudem die hohe und wachsende Staatsverschuldung in vielen Ländern. Anleger werden höhere Renditen auf Staatsanleihen verlangen.» 

https://www.cash.ch/news/top-news/auf-realwerte-setzen-wie-anleger-sich-bei-gestiegenen-zinsen-und-erhohter-inflation-am-besten-verhalten-715608


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